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04. April 2017

Quäl Dich, Du Sau

Drei erfolgreiche Schweizer Exprofis sind beim Storck-Rad Opening dabei und erzählen, wie schwer die Umstellung vom extremen Leistungssportler zum Freizeitfahrer ist. Oscar Camenzind, Alex Zülle und Dani Schnider mussten sich an ein neues Leben erst gewöhnen. In Naturns sind sie immer wieder gerne dabei – auch wegen ihrer Freunde Joachim Nischler (Dolce Vita-Hotel Lindenhof) und Klaus Nischler (Ötzi-Bike-Academy).

Alex Zülle hatte sich auf das Ende seiner Karriere gefreut. Letztes Rennen in den Niederlanden – und vorbei war die harte Zeit der Entbehrungen, der Disziplin, der Vorschriften. Er musste nicht mehr trainieren wie ein Berserker, er durfte trinken, was er wollte, er konnte essen, was ihm schmeckte, er konnte leben wie andere immer gelebt haben. „Und plötzlich brachte ich zwölf Kilo mehr auf die Waage“, sagt der Schweizer Radprofi, der schnell merkte, dass ein Leben ohne Leistungssport neue Regeln aufstellt – in jeder Beziehung.

Wahrscheinlich ist der Unterschied zwischen dem Alltag der Amateure und dem Alltag der Profis nirgendwo so ausgeprägt wie im Radsport. Zwar verlangen alle Sportarten von ihren Spitzenkräften eiserne Disziplin, aber beim Radfahren wird wirklich nur der ein Großer, der alle Brücken abbricht, geistig und körperlich lediglich ein Ziel kennt. „Ohne die Leidenschaft und den Willen, das letzte aus deinem Körper rauszuholen, wird keiner Profi“, sagt der mehrfache Schweizer Meister Dani Schnider, und der Straßenweltmeister Oscar Camenzind erzählt von Fahrern, die wesentlich talentierter waren als er und wie ihn ein erfahrener Italiener damals beruhigte: „Was glaubst Du, wie viele solcher angeblicher Radphänomene ich schon kommen sehen habe. So viele, wie ich gehen sehen habe.“

35.000 Kilometer ist jeder der Drei damals in der Saison gefahren, jeder war bereit, das Letzte für seinen Sport zu geben. „Es war ein unglaublicher Stress, der dich jeden Tag von neuem gefordert hat“, sagt der 45-jährige Oscar Camenzind, der 1996 als Profi begonnen hat und bei der Tour de France 1997 dabei war, als der Deutsche Udo Bölts seinen Landsmann Jan Ulrich mit dem legendären Satz „Quäl dich, du Sau“ zum Gesamtsieg trieb. Ein Spruch, den jeder Radprofi beherzigen muss.

„Ohne Qual geht gar nichts“, sagt auch Dani Schnider, der den Frust eines Sportlers kennt. „Wenn du schlecht trainiert hast und verlierst, kannst du damit umgehen. Wenn du aber hart trainiert, dich optimal vorbereitet hast, dich in bester Form wähnst und dann verlierst, kommst du an den Punkt, wo du dir überlegst, wofür du alles aufgegeben hast. Die Freunde, Dein normales Leben.“

Schnider ist als einziger der drei Schweizer dem Radsport auch nach seiner aktiven Zeit treu geblieben. In Wolhusen bei Luzern hat er ein Radgeschäft übernommen, bietet Touren an, verkauft vor allem Mountainbikes. Und er hat eine Ausbildung zum Mentaltrainer gemacht, vielleicht auch, weil er eine Unterstützung dieser Art ins seiner Zeit von 1996 bis 2005 vermisst hat. Schnider läuft über 400 bis 700 Grad heiße Kohlen. „Mit der richtigen Vorbereitung und der richtigen Einstellung kannst du alles schaffen“, sagt er heute. Damals habe man nur in seinen Körper reingehört und gehofft, dass man in Form ist, sagt Camenzind, der weiß, dass nicht nur die Fahrräder leichter geworden sind. Profiradfahren ist zu einer wissenschaftlichen Abhandlung geworden. „Da wirst du vor dem Start an einen Laptop angeschlossen und du weißt, wann du angreifen kannst und wann nicht.“

Selbst das Essen wird einem per Laptop und persönlichen Daten zugeteilt. „Früher gab es auch Spaghetti vor den Rennen. Aber wir haben so oft nachgeschöpft, bis der Hunger gestillt war“, sagt Zülle. „Heute berechnen sie, wie viele Kalorien du wo und wann verbrauchst und teilen dir deine Ration zu.“ Im Gegensatz zu Camenzind („Mit diesen Methoden wäre ich wahnsinnig geworden“) glaubt Zülle, er hätte vielleicht durch solche Maßnahmen Rennen wie die Tour de France gewinnen können. „Ich habe mich zu oft bei anderen Veranstaltungen verausgabt – und so fehlte vielleicht zum letzten Schritt ich den entscheidenden Rennen das letzte Quäntchen an Kraft.“

Ein Jahr hat er Pause gemacht nach der Karriere, genauso wie Camenzind. Nur weg vom harten Radsport. „Aber irgendwann brauchst du wieder eine Aufgabe“, sagen beide. Zülle hat als freier Mitarbeiter bei der Vermarktungsgesellschaft IMG gearbeitet, später als Produktmanager in der Textilbranche bei LOOOM-Sports. Heute leitet der zweifache Vater als Centermanager die Filiale von „update Fitness“ in Frauenfeld. Oskar Camenzind ist in seinen ehemaligen Job zurückgegangen und arbeitet in einer 60-Prozent-Anstellung bei der Post in seinem Heimatort Gersau. Ab und an steigt er als Tourenleiter noch aufs Fahrrad. So wie jetzt mit seinen Exkollegen Zülle und Schnider in Naturns. Dort fungieren sie als Ansprechpartner für Radsport-Urlauber bei der Storck-Rad-Opening-Woche ihrer Freunde Joachim Nischler (Hotel Lindenhof) und Klaus Nischler (Ötzi-Bike-Academy). Es ist ein bisschen wie früher. Nur: „Zum Frühstück esse ich keine Spaghetti mehr“, sagt Dani Schnider.

Oscar Camenzind wurde 1998 Straßenweltmeister und gewann die Lombardei-Rundfahrt. Im Jahr 2000 entschied er die Tour de Suisse für sich.

Alex Zülle gewann zwei Mal die Vuelta, wurde zwei Mal Zweiter bei der Tour de France und gewann den Weltmeistertitel im Einzelzeitfahren.

Dani Schnider feierte vier Mal die Schweizer Meisterschaft – als Bergmeister, als Straßenmeister und zwei Mal mit der Mannschaft des VC Pfaffnau. In Zürich gewann er einmal das Sechstagerennen.

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